„Wird es ein Junge oder ein Mädchen?“ Diese Frage stellen sich nicht nur zukünftige Eltern, sondern auch – oder vor allem – das soziale Umfeld von schwangeren Menschen. Aber warum wird überhaupt so viel Wert auf das Geschlecht eines ungeborenen Kindes gelegt und was haben wir Marketer*innen mit dem oft fragwürdigen Konzept des Gender Marketings zu tun?
In diesem Artikel erfährst du, wie aufgeschlossen und flexibel die Marketingwelt diesbezüglich bereits ist und was wir noch tun können, um toxischem Gender Marketing die Relevanz zu nehmen.
Inhaltsverzeichnis
Einführung ins Gender Marketing: Warum kategorisieren wir Menschen?
Der Mensch hat seit jeher das Bedürfnis, sein Umfeld zu kategorisieren – besonders Situationen oder Menschen, die nicht eindeutig erscheinen beziehungsweise von der Norm abweichen (könnten). Speziell die Einteilung und Unterscheidung in ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ gehört, laut der Psychologin Monika Weiderer, zu den grundlegenden Klassifikationskategorien der Menschheit. Im Gender Marketing liegt der wirtschaftliche Fokus auf genau dieser Einteilung. Dabei nehmen sich Kinder in ihrem Ursprung überhaupt nicht als geschlechtlich differenziertes Wesen wahr – sagt zumindest Simone de Beauvoir. Die „Erwachsenen“ stülpen den (ungeborenen) Kindern dementsprechend eine vorgefertigte und durchgeplante Geschlechtsidentität über, die durchaus negative Auswirkungen haben kann. Ebenfalls außer Acht gelassen werden bei der klaren Einteilung in zwei Geschlechter Menschen, die sich als nicht-binär identifizieren sowie intersexuelle Personen.
Das Prinzip des Gender Marketings ist also gar nicht so unproblematisch, wie es in seiner visuellen Reflektion von Rosa und Blau auf den ersten Blick vielleicht wirken mag – der britische Werberat (ASA) veröffentlichte zuletzt 2017 eine Studie zur Gefahr von Genderstereotypen für die Entwicklung von Kindern. Im Folgenden wollen wir deshalb erklären, wie Gender Marketing funktioniert, welche Problematik dahintersteckt sowie Positiv- und Negativbeispiele aufzeigen.
Was ist überhaupt Gender Marketing?
Gender Marketing beschreibt grundsätzliche Maßnahmen des Marketings, die die Bedürfnisse von Frauen und Männern decken sollen. Gender Marketing kann in vielen Bereichen Probleme und Missstände auslösen. In diesem Artikel gehen wir hauptsächlich auf Marketingmaßnahmen und soziale Events ein, die von Erwachsenen „für“ Kinder veranstaltet werden. Darunter zählen beispielsweise Gender Reveal Partys – doch dazu später mehr.
Geschlechtsspezifische Einteilungen resultieren schließlich in stereotypischen Klischees – wie zum Beispiel rosa Puppenhäuser für Mädchen und Ritterrüstungen für Jungs.
Ein kleiner Exkurs zur „Mädchenfarbe“ Rosa
Nicht immer schon galt Rosa als niedlich und schwach und wird – patriarchalen Strukturen zugrunde liegend – Mädchen beziehungsweise Frauen zugeordnet. Noch in den 1920er Jahren sahen Wirtschafts- und besonders Textilunternehmen Rosa als „das kleine Rot“ an. Rosa hat seinen Ursprung in der Abschwächung von Rot als Farbe von Blut und Krieg – zwei zumeist männlich konnotierte Merkmale. Die Farbe Blau wurde aufgrund der Assoziation mit der Jungfrau Maria eher Mädchen zugeordnet. Im Verlauf der Jahre nahm die Entwicklung der Farbinterpretation von Rosa und Blau ihren Lauf, sodass sich Rosa vor dem zweiten Weltkrieg als sogenannte Mädchenfarbe etablierte. Diese menschengemachte Farbeinteilung trägt bis heute einen Teil zum Gender Marketing bei.
Beispiele für Gender Marketing
Gender Reveal Partys, die eigentlich aus den USA kommen, haben in den letzten Jahren auch in Deutschland einen enormen Aufschwung erlebt. Hierbei handelt es sich um die Bekanntgabe des Geschlechts eines noch ungeborenen Kindes. Würde man die feministische Philosophin Judith Butler nach dem Sinn und Zweck solcher Partys fragen, würde sie vermutlich sagen, dass hierbei zuallererst der Name überdacht werden müsse. Das englische Wort Gender beschreibt das soziale Geschlecht eines Menschen – heißt, Gender ist fluide und kann sich im Laufe des Lebens eines Menschen immer weiter und neu entwickeln. Der Begriff Sex definiert das biologische Geschlecht – also das Geschlecht, was Menschen bei ihrer Geburt aufgrund von Äußerlichkeiten der Geschlechtsorgane zugeschrieben wird. Wer mehr über die Kategorisierung von Geschlechtern und den Sinn dahinter erfahren möchte, findet in Butlers Werk Das Unbehagen der Geschlechter viele Denkanstöße diesbezüglich. Beim Lesen bitte nicht verzweifeln – es lohnt sich!
Doch zurück zum Hype der Gender Reveal Partys: Genau genommen müssten diese also Sex Reveal Partys heißen, solch eine Namensänderung wird sich aber vermutlich nicht mehr durchsetzen. Unter dem hashtag #genderreveal werden bei Instagram über 2 Millionen Beitrage aufgeführt. Eine Party pompöser und aufwendiger gestaltet als die andere – und das alles für das ungeborene Kind. Oder doch eher für die Eltern? Die YouTuberin Alicia Joe zeigt in einem Video, wie viel Geld und Ressourcen werdende Eltern ausgeben, um eine solche Party zu feiern.
Trotz der fragwürdigen und problematischen Stereotype von Geschlechterklischees, die durch solche Partys reproduziert und somit weiter am Leben gehalten werden, sollte auch hier gelten: leben und leben lassen. Allerdings kam es in Vergangenheit immer öfter zu übertrieben oder riskanten Events, bei denen sogar wilde Tiere wie Tiger oder Alligatoren einbezogen wurden.
In Deutschland sind solche ausufernden Partys zwar eher selten, trotzdem geizen Influencer*innen wie Dagi Bee oder BibisBeautyPalace nicht mit Ressourcen wie Geld oder Aufmerksamkeit, wenn es um die Bekanntmachung des biologischen Geschlechts ihres ungeborenen Kindes geht.
Dagi Bee hat sogar ihre Managerin beauftragt, ihre Gender Reveal Party zu planen. Mit blauen und rosafarbenen Luftballons wurde hier noch einmal ganz klar auf eine bewusste Einteilung in männlich und weiblich hingewiesen.

Kritische Stimmen unter Dagi Bees Gender Reveal Post
Auf YouTube wird eine weitere Form des Gender Marketings zelebriert: die Roomtour des zukünftigen Kinderzimmers. Auch hier greift Dagi Bee zu den altbewährten Mitteln der Geschlechtsspezifizierung: die blaue Farbzuweisung. Vom blauen Herz in der Videobeschreibung bis hin zum blauen Pulli, den Dagi trägt – alles nur Zufall, weil blau generell ihre Lieblingsfarbe ist? I doubt it. Der obligatorische Rabattcode darf im Video natürlich auch nicht fehlen. Ebenso wenig wie das Zeigen und Verlinken der blauen Möbelstücke und Accessoires.
Auch gesellschaftlich etablierte Feiertage wie der Muttertag werden zum Anlass genommen, Gender Marketing zu betreiben. BibisBeautyPalace beispielsweise zieht ihren Kindern zu diesem für sie besonderen Tag farblich „passende“ Oberteile an – damit niemand vergisst, wer hier das Mädchen und wer hier der Junge ist.
Was ist daran problematisch?
Durch die Vermarktung von Kindern beziehungsweise ihrem biologischen Geschlecht entsteht ein immenser Druck – zum einen auf eben diese Kinder, die seit ihrer Geburt (und genau genommen bereits davor) mit einer gesellschaftlich konstruierten Norm konfrontiert werden, der sie zu entsprechen haben.
Unterscheidungen in Produkte für Männer oder Frauen sind eines der großen Probleme unserer störrischen Kategorisierungs-Kultur. Dadurch entstehen nämlich gesellschaftliche Missstände wie zum Beispiel die Pink Tax. Auch in Bezug auf die Vermarktung von Kinderprodukten kann Gender Marketing einen negativen Einfluss haben, wie die bereits oben genannte Studie des britischen Werberats zeigt. Denn hier wird Kindern suggeriert: Du musst dich verhalten und fühlen, wie es der Kategorie deines Geschlechts entspricht. Toxische Stereotype werden so reproduziert und in der Gesellschaft gefestigt. Frauen wird etwa eingeredet, dass sie bestimmte Dinge aufgrund ihres Geschlechts nicht können. Männer leiden unter der Etablierung von toxischer Männlichkeit, die negative Auswirkungen auf die mentale Gesundheit haben kann.
Ein zentrales Problem dieser Vermarktungsstrategien: die Nachfrage bestimmt das Angebot. Das gilt auch im Gender Marketing, schließlich beeinflussen große Influencer*innen etc. die Wirtschaft – und umgekehrt. Heißt: Werden Unmengen an blauen und rosafarbenen Luftballons mit dem Aufdruck „Girl“ oder „Boy“ gekauft oder angefragt, produziert der Markt selbstverständlich auch immer mehr von solchen Produkten. Das Motto des Kapitalismus ist nämlich immer noch „Geld machen, wo auch immer es geht“ und nicht „Wir als Bewohner*innen dieser Erde sollten lieber verantwortungsbewusst und selbstlos handeln, anstatt Profit über Menschlichkeit zu stellen“.
Toxisches Gender Marketing: Was können wir dagegen tun?
Zuallererst: Farben sind für alle da, und genau deswegen sollten sowohl Mädchen als auch Jungen gerne Blau und/oder Rosa tragen können – ohne jegliche Bedenken über mögliche Reaktionen von außen. Allerdings ist es wichtig sich darüber bewusst zu sein, was die als allgemeingültig angesehene Zuweisung von Farben und Vermarktungsstrategien im Gender Marketing anrichten kann.
Auch wir als Marketer*innen haben im Bereich der Contentproduktion und -darstellung eine tragende Rolle hinsichtlich der Vermittlung von stereotypischen Rollenbildern und Geschlechterklischees. Trotz unseres Bewusstseins darüber können auch wir keine universalen Lösungen für die ausgelöste Problematik durch Gender Marketing liefern. Allerdings können wir darauf achten, im Alltag simpel einsetzbare Tools zu verwenden, um eine Art Grundvoraussetzung für genderneutrales Auftreten schaffen zu können:
- Inklusive, einfache Sprache verwenden, die kein Geschlecht ausschließt oder bevorteilt (zum Beispiel durch Gendern)
- Weder durch Sprache noch durch visuelle Darstellung toxische Geschlechterstereotype reproduzieren
- Unternehmen dazu motivieren, bezüglich der Kreation und öffentlichen Darstellung von genderrelevaten Themen verantwortungsbewusst und progressiv zu handeln (zum Beispiel mit unserem Genderleitfaden)
Durch die Berücksichtigung solcher Maßnahmen können wir als Marketer*innen großen Unternehmen zumindest einen Anreiz geben, sich dem bereits einstellenden Fortschritt nicht zu verschließen und statt Teil des Problems lieber Teil der Lösung zu werden.
Positivbeispiele
Die Unternehmerin und Autorin Mirella Precek (Mirellativegal) kann im undurchsichtigen Dschungel der Influencer*innen als Positivbeispiel in Sachen Gender Marketing genannt werden: Die Nürnbergerin leistet sowohl auf ihrem YouTube-Kanal als auch auf Instagram kostenlose Bildungsarbeit – wie beispielsweise in Reality TV Formaten stereotypische Geschlechtsbilder ausgestrahlt und somit reproduziert werden und wie dies stattdessen gelöst werden könnte. Mirella Precek hat selbst eine kleine Tochter, die sie nicht als Teil ihrer Internetpräsenz inszeniert. Im Gegenteil: Auf Instagram setzte sie 2020 einen Post ab, der Gender Reveal Partys in ein komödiantisches, fast schon lächerliches Licht setzt.
Precek zeigt, wie man Mutterschaft öffentlich positiv zum Thema machen und auch die Liebe zum eigenen Kind zelebrieren kann, ohne dabei Persönlichkeitsrechte des Kindes zu verletzen und problematische Rollenbilder zu verbreiten.
Auch Unternehmerin Toyah Diebel (toyahgurl) setzt mit der öffentlichen Aktion Dein Kind auch nicht ein Zeichen gegen die Persönlichkeitsverletzung von Kindern, die von ihren Eltern im Internet gezeigt werden – etwas, was bei den typischen Maßnahmen des Gender Marketings früher oder später in den meisten Fällen passiert.
Als Unternehmen erregte LEGO mit einer Pressemitteilung im Jahr 2021 viel positive Aufmerksamkeit im Bereich des Gender Marketings: der Konzern gibt an, das Spielen mit LEGO inklusiver und genderneutraler angehen zu wollen – das soll mit einer von LEGO angefragten Studie beim Geena Davis Institut in Los Angeles und einer Überholung von diversen LEGO Friends Spielsets geschehen. Hört sich toll an, allerdings sollten wir als Empfänger*innen solcher Nachrichten nicht vergessen, dass für LEGO Profit immer noch am wichtigsten ist. Deswegen sollten wir als Marketer*innen solche gut durchdachten Mitteilungen zunächst einmal auf Herz und Nieren prüfen – auch auf die Gefahr hin, dass am Ende mehr Greenwashing als echter Änderungswille des Gender Marketings dahinter steckt.
Unsere Kolleg*innen von Pinkstinks haben sich die Causa LEGO einmal genauer angeschaut.
Fazit
Toxisches Gender Marketing ist ein Problem – und zwar generations- und gesellschaftsübergreifend. Neben der Verletzung von den Persönlichkeitsrechten der zum Teil noch ungeborenen Kindern kann sich das Problem der Reproduzierung von geschlechtsspezifischen Stereotypen nämlich zu einer existentiellen Krise eines jeden Individuums entwickeln.
Wir als Marketer*innen können dem ein Stück weit trotzen, indem wir inklusiv kommunizieren und großen Unternehmen zeigen, dass es sich sowohl auf ethischer als auch auf finanzieller Ebene nicht lohnt, Farben nach biologischem Geschlecht zu sortieren.